„Natur Defizit Syndrom“
– ein Interview mit Benjamin Ziep
Benjamin Ziep ist Gründer und Leiter der Wildnisschule Berlin. Wir haben ihn getroffen und über die Bedeutung der Natur für die kindliche Entwicklung gesprochen. Wieso sind Kinder immer weniger draußen? Und welche Möglichkeiten gibt es, Naturverbindung zu fördern? Benjamin zeigt Hintergründe des sogenannten Natur-Defizit-Syndroms auf und erklärt, welchen Beitrag natur- und wildnispädagogische Angebote leisten können. Erfahrt mehr!
Benjamin, warum brauchen Kinder deiner Meinung nach überhaupt Naturerlebnisse?
Forschungsergebnisse belegen, dass intensive Naturerlebnisse einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Gleichgewicht, Koordination, Geschicklichkeit sowie das Erleben und Ausdrücken von Gefühlen haben. Naturerfahrungen können somit die Psychomotorik positiv beeinflussen. Dies schlägt sich auch im späteren Schulalltag nieder. Die psychomotorische Förderung hat Einfluss auf die gesamte Leistungsfähigkeit und Konzentration in der Schule. Gleichzeitig spielt sie bei der Entwicklung von Sozialverhalten eine wichtige Rolle. Intensive Naturerlebnisse sind auch unserer Erfahrung nach, der beste und natürlichste Weg, Kindern ein stabiles Fundament für ihren Lebensweg mitzugeben. Dies wird uns durch unsere jahrelange Zusammenarbeit mit Kitas und Schulen in gemeinsamen wildnispädagogischen Programmen auch immer wieder bestätigt. Naturverbindung zahlt sich aus!
Wie würdest du den heutigen Bezug von Kindern zur Natur einschätzen?
Der Begriff „Natur-Defizit-Syndrom“ beschreibt die Lage von Kindern und Jugendlichen in westlichen Gesellschaften sehr gut. In unseren Programmen müssen wir leider auch immer wieder feststellen, wie sehr Kinder und Jugendliche generell von ihrer natürlichen Umwelt entfremdet sind. Es braucht meist erstmal einen „Icebreaker“ und eine verbindende Naturerfahrung, um Raum und Offenheit fernab von Ängsten und Konsum zu schaffen. Leider nimmt die Naturentfremdung – die Abwesenheit von Naturerfahrung – mit steigendem Alter exponentiell zu.
Wie lässt sich deiner Meinung nach die Distanz zur Natur und der damit verbundene Mangel an Naturerfahrungen erklären?
Einen wesentlichen Einfluss auf die Entfremdung hat das künstliche Wecken von Konsuminteressen und dem daraus resultierenden steigenden Konsumverhalten der Gesellschaft. Auch die übermäßige Hinwendung zur digitalen Gesellschaft und der Irrglaube, dass Naturverbundenheit, Wissen und Fähigkeiten in Bezug auf Natur in unserer vorwärtsgewandten Gesellschaft keinen wirtschaftlichen Nutzen oder Impact hätten, distanziert uns von der Natur. Allerdings zählen nach unserer Erfahrung auch der Mangel der Elterngeneration an eigener Naturverbindung oder -erfahrung und die damit verbundenen Ängste ebenfalls zu den wesentlichen Ursachen für den Entfremdungszustand und das Natur-Defizit-Syndrom von Kindern in unserer Gesellschaft.
Und was braucht es, um dem entgegenzuwirken?
Zum einen braucht es die Anerkennung der Wichtigkeit von Naturverbindung für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft, zum anderen die feste Integration von wildnis- und naturpädagogischen Angeboten in die Lehrpläne und Bildungskonzepte von den Kitas und Schulen. Naturerfahrung sollte ein fester Bestandteil des Kita- und Schulalltages sein!
Welchen Beitrag können diese natur- und wildnispädagogischen Angebote leisten?
Nicht nur in der Entwicklung des persönlichen Potenzials von Kindern und Jugendlichen leisten wildnis- und naturpädagogische Angebote einen Bärendienst. Auch im Bezug auf eine zukunftsfähige und nachhaltige Ausrichtung und Entwicklung unserer Gesellschaft kann Naturverbindung eine ganz entscheidenden Rolle einnehmen. Da die Angebote an den natürlichen Interessen der Kinder anknüpfen, benötigt man keine besonderen, oftmals teuren Materialien oder eine technische Grundausstattung, um ein gutes Naturerlebnis zu gestalten. Dies ist ein entscheidender Vorteil von wildnis- und naturpädagogischen Angeboten.
Kannst du uns nochmal genauer erläutern, wieso Naturerfahrungen so essenziell für die kindliche Entwicklung sind?
Wie oben beschrieben hat z.B. die Psychomotorik einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und späteren Erwachsenen. Das Ausbilden eines emotionalen und praktischen Bezuges zur Natur ist ebenfalls entscheidend für die zukunftsfähige und nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft. Es ist also eigentlich Überlebenswichtig für unsere Art!
Was kannst du als Experte den Eltern mitgeben?
Ihr könnt die Naturverbindung eurer Kindern durch die Teilnahme an spannenden wildnis – und naturpädagogischen Programmen fördern. Als Elternteil könnt ihr außerdem aktiv bei Pädagog: innen in den Bildungseinrichtungen nach naturverbindenden Aktivitäten fragen und natürlich selbst mit den Kindern in die Natur gehen.
Hast du Tipps für Eltern, um Kinder fürs Draußensein zu motivieren?
Schafft positive Anreize und setzt euch mit dem auseinander, was Kinder gerne machen. Was tun sie am liebsten und warum? Vielleicht auch mal an die eigene Kindheit erinnern. Was habe ich als Kind gerne gemacht? Was hat mich fasziniert und motiviert? Und ein Grundsatz: Mache es „wild und gefährlich“, oder lasse es zumindest so aussehen ;).
Zum Abschluss haben wir noch eine Frage: Was sind deine Lieblingsspiele und Aktivitäten mit Kids?
Naturverbindungsspiele und das Herumstromern/Entdecken mit Kindern ist großartig. Kinder sind geborene Forscher:innen und haben schon allein durch ihre Körpergröße und ihre Unvoreingenommenheit einen ganz anderen Blick auf die Welt als wir Erwachsenen. Sie können großartige Lehrer:innen für uns sein.
Das Interview hat Hendrik Jansen geführt.