„Ein intuitiver Zugang zu sich selbst und zur Natur“

– ein Interview mit Ulli Huber

Ulli Huber ist am Jugendzentrum Papperlapapp in Bozen in Südtirol als Pädagogin tätig, wo sie vor allem die ExPEERience Ausbildung leitet. Ihre Ausbildung umfasst systemische Erlebnispädagogik, Naturcoaching und Sozialpädagogik. 

Bild von Ulrike Huber

Ulrike, erzähle uns, warum brauchen Kinder Zeit in der Natur?

Weil sie in der Natur frei unterwegs sein können: Die Natur ermöglicht Kindern, ihre intrinsische Lebendigkeit in einem wertefreien Raum auszuleben. Und Freundschaften fürs Leben zu knüpfen. Kinder können sich selbst über die Natur näher kommen und Lebensprozesse intuitiv erfassen. Bspw. ist der Tod – das natürliche Kommen und Gehen – als ein elementarer Bestandteil der Natur erfahrbar. Das muss nicht kognitiv erklärt werden. Daraus kann etwas Neues erwachsen. Sie können sich selbst und ihre Grenzen austesten, ohne beurteilt zu werden, weil die Natur gänzlich urteilsfrei ist. Außerdem lässt die freie Natur viel Raum für Kreativität, Ruhe, etc. – eben einen Raum für ganzheitliches Wachstum.

 

Was kannst du als Expertin Eltern mitgeben?

Naturerfahrungen sind mit das Wertvollste, was man an Erziehung leisten kann. Diese Erfahrungen finden auf allen Ebenen (nicht nur kognitiv) statt. In einem Rhythmus, der den Kindern wirklich angemessen ist. Niemand ist unter- oder überfordert und jede:r kann in dem Rhythmus seines eigenen Selbst Entwicklung erfahren. Unvergessliche Momente erleben. Natur ist eine Quelle, aus der man gut schöpfen kann – auch in schwierigen Momenten. Die Erfahrungen in der Natur können dann als Transfer auf das alltägliche Leben als Ressource dienen, auf die du zurückgreifen kannst. Sie ermöglichen eine echte Verbindung und eine kritische Konsumhaltung. 

Wie würdest du den heutigen Bezug von Kindern zur Natur einschätzen?

Grundsätzlich glaube ich, dass es früher einfacher war, Zeit in der Natur zu verbringen, weil es ein Teil des natürlichen Lebens war. Damals war das Leben mehr landwirtschaftlich, heute muss man aktiv rausgehen.

Das Wissen über die Natur ist heutzutage eher kognitiv – das führt zu einer Distanz zur Natur bzw. einer Distanz zwischen Mensch und Natur, wodurch es schwieriger ist, sich selbst als ein Teil der Natur wahrzunehmen. In der Natur aufzuwachsen, kann grundsätzlich sehr heilsam sein, weil eben unter anderem der Leistungsdruck wegfällt. Meine Beobachtung ist, dass Menschen, die in der Natur unterwegs sind, das Bedürfnis entwickeln, häufiger herauszugehen, weil es immer etwas Neues zu entdecken gibt. Die Wiege der Kreativität. Man lernt automatisch einen respektvollen Umgang mit der Natur.

 

Wie lässt sich deiner Meinung nach die Distanz zur Natur und der damit verbundene Mangel an Naturerfahrungen erklären?

Durch die Entfernung des Menschen zu seinem eigenen Selbst entsteht eine Beschönigung der Wirklichkeit. Dadurch entsteht eine Orientierungslosigkeit, es fehlt ein Bezugspunkt und ein innerer und äußerer Wegweiser. Wenn ich z.B. keinen Bezug zu meinen Gebrauchsgegenständen, meiner Wohnung etc. habe, verliere ich auch die Wertschätzung dafür. Ähnlich verhält es sich mit dem Bezug zur Natur, die Wertschätzung der Natur geht verloren. Ebenfalls werden die Sinne total vernachlässigt. Naturerfahrungen helfen uns, unabhängig, selbstbewusst und glücklich zu sein.

 

Was braucht es, um dem entgegenzuwirken?

Ein Bewusstsein darüber, was wirklich relevant ist. Es braucht das Gefühl, dass ich ein Teil eines Ganzen bin und auch darüber, wenn viele Konsumgüter wegfallen, dass ich trotzdem überleben könnte. Hier ein Beispiel: Ich bin vielleicht schmutzig, dennoch kann ich überleben. Und das ist ein gutes Gefühl. Dies verleiht uns das Gefühl, dass wir den technischen Errungenschaften nicht so ausgeliefert sind, dass wir unabhängig davon sind.

 

Welchen Beitrag können natur- und wildnispädagogische Angebote leisten?

Wenn sich Kinder mit den Abläufen und Prozessen der Natur beschäftigen, können sie auch lernen, ihre eigenen inneren Prozesse zu verstehen. Lasst mich das an verschiedenen Beispielen aus der Natur erklären:

 

Nehmen wir zuerst das Beispiel von einem Vogel, der behütet in einem Nest von seinen Eltern aufwächst und mit der Zeit immer unabhängiger wird, bis der Vogel das Bedürfnis verspürt, wegzufliegen und das Nest zu verlassen. Ähnlich verhält es sich mit dem Entwicklungsprozess unserer Kinder. Natürlich gibt es in diesen Prozessen auch Konflikte, die überwunden werden müssen, ob in der Natur oder bei unseren eigenen inneren Prozessen. Auch der Wert einer Gemeinschaft lässt sich an einem Beispiel in der Natur wiederfinden: Ameisen, die etwas zusammen transportieren. Wenn Kinder diese Abläufe in der Natur kennenlernen, lernen sie, dass auch sie ihren Teil für das Ganze einer Gemeinschaft beisteuern können und auch die Lust entwickeln, etwas beitragen zu wollen. Nehmen wir zuletzt das Beispiel von Pflanzen, die an unterschiedlichen Stellen in der Natur wachsen: Bei guten Bedingungen wäre ich nur eine von vielen. Aber auf einem Berg ist es eventuell viel schwieriger aufzuwachsen, wodurch sich jedoch mein Charakter besonders stark entwickeln kann.

 

Durch ein stärkeres Naturverständnis bildet sich auch eine gewisse Handlungsfähigkeit und eine stabile Persönlichkeit aus. Das Gefühl, dass ich nicht ausgeliefert bin, sondern eben unabhängig und selbstsicher agieren kann.

 

Welche Tipps hast du für Eltern, damit sie ihre Kinder motivieren können, in die Natur zu gehen?

Ermöglicht euren Kindern so viele Naturerfahrungen wie nur möglich. Auch wenn es nur das Klettern auf einem Baum im Stadtpark ist. Freies Spielen ist wichtig, damit Kinder ihre eigenen Grenzen austesten können und verstehen, wer sie sind und wer sie sein wollen.

 

Was sind deine Lieblings-Aktivitäten mit Kids?

Sinneswahrnehmungsspiele sind meine Lieblinge: z.B. Naturmemory, Naturkamera, Blindgänge in allen Varianten, Abenteuerparcours. Solche Spiele können Kindern helfen, sich selbst besser zu verstehen und Empathie für andere aufzubauen.

 

Das Interview hat Hendrik Jansen geführt.

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